Olympische Spiele in Tokio mit Glanzlichtern und verpassten Chancen

Annett Stein, die Cheftrainerin des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), hat nach den Olympischen Spielen Bilanz gezogen: Drei deutsche Medaillen wie 2016 in Rio. Dieses Mal eine in Gold von Weitspringerin Malaika Mihambo (LG Kurpfalz) und zwei silberne von Diskuswerferin Kristin Pudenz (SC Potsdam) sowie Geher Jonathan Hilbert (LG Ohra Energie). Und nach weiteren Top-Resultaten wie Rang vier von Speerwerfer Julian Weber (USC Mainz) oder drei Top-Fünf-Platzierungen resultieren daraus 50 Punkte in der Nationenwertung. Platz elf im Weltvergleich.

So die nackten Zahlen, die am Sonntag nach Ende der Leichtathletik-Wettbewerbe Grundlage für eine Bilanz waren. Doch wer die Wettbewerbe verfolgt hat, weiß: Hinter jedem Erfolg und hinter jeder Enttäuschung stecken ein langer Weg, eine einzigartige Geschichte und eine Persönlichkeit, denen die nackten Zahlen selten gerecht werden.

Speerwurf-Finale mit unerwartetem Ausgang

So auch im Falle des zuletzt weltweit dominierenden Johannes Vetter (LG Offenburg), dessen überraschendes Aus im Vorkampf des Speerwurf-Finals am Vorabend noch die Gemüter bewegte. „Wir haben alle auf den Abend hingefiebert“, blickte DLV-Cheftrainerin Annett Stein zurück. „Und wie am Abend zuvor ist die Enttäuschung bei allen noch groß. Aber ich bin seit mehr als 30 Jahren Trainerin und habe schon viel erlebt. Der Sport bringt Geschichten hervor, die alle in Euphorie versetzen. Aber auch Geschichten der Enttäuschung für Trainer und Athleten, die das andere Gesicht des Sports zeigen.“

Johannes Vetter habe bei seiner hohen Anlaufgeschwindigkeit seine Stemmtechnik auf dem neuartigen Belag nicht anwenden können – die Grundlage für seinen bisherigen Erfolg und regelmäßige Weiten jenseits der 90 Meter. Es war ein Problem, mit dem alle Werfer zu kämpfen hatten, die dieselbe Technik anwenden. Andere Medaillenkandidaten waren gar schon in der Qualifikation gescheitert.

Nicht zufrieden mit der Chancen-Verwertung

Den Speerwurf zählte Annett Stein als eine der Disziplinen auf, in denen deutsche Chancen nicht verwertet werden konnten. Auch Christin Hussong (LAZ Zweibrücken) war mit Medaillenambitionen angetreten und nur Neunte geworden. „Wenn wir unsere Chancen berücksichtigen, dann können wir mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein“, stellte Annett Stein fest.

Jede Menge Pech bremste zum Beispiel die Mehrkämpfer aus, Carolin Schäfer (Eintracht Frankfurt) schon mit Impfreaktionen in der Vorbereitung, Niklas Kaul (USC Mainz) beim Kampf um die Medaillen mit einer Fußverletzung im Hochsprung. Der Olympia-Dritte von Rio Daniel Jasinski (TV Wattenscheid 01) konnte sein Potenzial im Diskus-Finale dieses Mal nicht zeigen, auch die jungen Stabhochspringer verpassten auf Rang neun und elf die Chance, in der Weltspitze mitzumischen.

Hier gelte es auszuwerten, warum an Tag X die Leistungen nicht ausgereizt wurden. Immer jedoch auch vor dem Hintergrund, dass sich die Sportart in einem dynamischen Veränderungsprozess der Materialoptimierung und der Verschiebung von Kompetenzen in den einzelnen Ländern befinde. „Die Leichtathletik entwickelt sich extrem global“, erklärte Annett Stein, „ein Inder gewinnt den Speerwurf, und ein Athlet aus Burkina Faso holt Bronze im Dreisprung.“ 36 Nationen haben in Tokio Medaillen geholt, 70 eine Top-Acht-Platzierung errungen.

Drei deutsche Medaillen als Highlights

Die drei deutschen Medaillen bezeichnete Stein als „Highlights von Athleten, die teils unter schwersten Bedingungen performt haben.“ Auch in den Straßen-Wettbewerben, zum Beispiel im Gehen mit Jonathan Hilbert sowie dem Fünften über 20 Kilometer Christopher Linke (SC Potsdam) oder im Marathon mit jeweils drei deutschen Finishern in der vorderen Hälfte des Feldes sowie Melat Kejeta (Laufteam Kassel) auf Rang sechs sehe sie, dass das Endurance Program des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) Früchte trägt.

Ohnehin müsse die Definition von Erfolg abseits von Top-Drei-Platzierungen realistisch und individuell betrachtet werden. So habe Gesa Felicitas Krause (Silvesterlauf Trier) mit ihrem fünften Platz über 3.000-Meter-Hindernis „optimal performt und gut auf den Rennverlauf reagiert.“ Auch mit dem achten Platz von Konstanze Klosterhalfen (TSV Bayer 04 Leverkusen) über 10.000 Meter nach nur sieben Wochen Vorbereitungszeit sei sie sehr zufrieden.

In allen Staffel-Wettbewerben qualifiziert

Optimistisch stimmt die DLV-Cheftrainerin zudem, dass sich alle fünf deutschen Staffeln für die Olympischen Spiele qualifizieren konnten. „Mit der Frauen-Staffel über 4 x 100-Meter hatten wir uns eine Medaille erhofft, aber dafür musste an dem Tag wirklich alles stimmen, und man musste auch auf Fehler der anderen hoffen“, erklärte sie.

In den kommenden Wochen stehen intensive Gespräche mit den Trainerinnen und Trainern sowie Athletinnen und Athleten der einzelnen Disziplingruppen bevor, um die Resultate von Tokio genauer einzuordnen und zu bewerten. „Wir wollen mit unseren stärksten Athleten Medaillen gewinnen“, stellte Annett Stein klar, betonte aber auch: „Die Ziele werden individuell hoch angesetzt, aber im Kontext von Alter, Karriereposition und weiteren Faktoren auch individuell bewertet.“

In der DLV-Leistungssportkonferenz in Kienbaum sollen nach Saisonende die Weichen für die zukünftigen Maßnahmen gestellt werden. Denn schon das kommende Jahr bietet mit den Weltmeisterschaften in Eugene, Oregon (USA) und der Heim-EM in München die Gelegenheit für die deutschen Leichtathleten, ihre Chance auf individuelle Highlights zu ergreifen.