Ihre sechs Jahre ältere Schwester hat Annika Schultze Kalthoff zur Leichtathletik gebracht. „Ich habe so lange gequengelt, bis ich mal mitkommen durfte“, erzählt sie. Die mittlerweile 15-Jährige lebt in Osterwick, dem größten Ort der Gemeinde Rosendahl im Westmünsterland. Die Leichtathletik-Gemeinschaft Rosendahl ist ihr Heimatverein, in dem sie 2010 in Nachwuchs-Spielgruppen den Spaß an Laufen, Springen und Werfen gefunden hat. Sukzessive standen immer mehr Trainingseinheiten auf ihrem Wochenplan. Aus der allgemeinen Leichtathletik hat sich durch einen Vereinswettbewerb schließlich der Hochsprung als Annikas Disziplin herausgetan: „Ich habe bei unseren Vereinsmeisterschaften, den ‚Rosendahler Meisterschaften‘ immer beim höheren Jahrgang mitgesprungen – irgendwie hat sich so ergeben, dass ich Hochsprung mache.“
„Vielleicht war es ein wenig peinlich, aber ich bin nach meiner Qualifikation für die deutschen U16-Meisterschaften im Jahr 2019 in Tränen ausgebrochen“, berichtet die 15-Jährige, auf ihre bisher größten sportlichen Erfolge angesprochen. So überschwänglich war die Freude über die erste Teilnahme an einer deutschen Meisterschaft. „Am letztmöglichen Qualifikationstag im letzten Versuch hab' ich die Quali geschafft, da ist einiges abgefallen. Am Ende war ich Neunte, ein Platz vorbei an einer Urkunde, aber dafür ist nächstes Jahr noch Zeit“, erklärt sie zuversichtlich.
Der Fokus auf Schule oder Leistungssport?
Viermal in der Woche steht die NRW-Meisterin 2018 und -Vizemeisterin 2019 dafür auf der Trainingsbahn, dreimal in ihrer Heimat Rosendahl, einmal in der Woche fährt sie ins rund 35 Kilometer entfernte Münster zum Stützpunkttraining. Eine Stunde Fahrt pro Strecke – für das Extra-Training nimmt man schonmal mehr in Kauf. Doch damit ist noch nicht alles getan: Akribisch führt Annika Buch über jede Aktivität, der sie nachgeht: „Ich führe ein Trainingsprotokoll, ich dokumentiere jeden Tag – auch einfache Fahrradfahrten stehen da drin.“ Das „Trainingstagebuch“ schickt sie ihrem Heimtrainer, der anhand des Protokolls das Training mit dem des Stützpunkttrainers abgleichen kann. So funktioniert die Abstimmung zwischen den verschiedenen Trainings sehr professionell.
In einem so vollen Wochenplan bleibt wenig Zeit für anderes. Spaß, vor allem Lust fehlen der 15-Jährigen nicht, Hochsprung steht eindeutig im Mittelpunkt. „Ich bringe mir ein bisschen das Keyboardspielen bei, aber nicht ernsthaft“, erklärt sie. Und schließlich besucht die sie noch die Schule. Mit diesem Schuljahr hat für Annika der Nachmittagsunterricht der gymnasialen Oberstufe begonnen. „Gerade montags und dienstags sind stressige Tage. Ich komme erst um halb fünf aus der Schule und muss direkt weiter zum Training.“ Liegt denn ihr Fokus auf einer erfolgreichen Schullaufbahn oder eher auf der Leichtathletikkarriere? Eine schwierige Frage, wie Annika befindet. Vermutlich, weil sie eine sehr ehrgeizige Person ist – in schulischen wie in sportlichen Belangen. „Wenn ich was mache, dann richtig. Ich nehme mir die Zeit zum Lernen wie für Hausaufgaben, ein Training würde ich dafür trotzdem nie ausfallen lassen.“
Und warum widmet sie ihre (Frei-)Zeit der Leichtathletik? Was macht für die 15-Jährige die Faszination aus? „Ich wäre keine gute Teamsportlerin“, führt Annika etwas zurückhaltend aus. „Wenn ein Fehler passiert, würde ich den schneller auf andere schieben als ihn bei mir zu suchen“, reflektiert sie. In der Leichtathletik ginge das nicht. Der Sportler allein ist für all seine Erfolge wie für Misserfolge verantwortlich, ist sie sich dessen voll bewusst. Das frühe Lernen dieser Eigenverantwortung macht für die Münsterländerin die Faszination aus. „Darüber hinaus lernt man unwahrscheinlich viele Menschen kennen, nicht nur aus dem eigenen Verein.“ In der Leichtathletik trifft man zu Wettkämpfen immer wieder auf die gleichen Gesichter, baut so viele Kontakte und Freundschaften auf.
Gemeinsames Essen als Wettschuld für DM-Quali
Unter Annikas Schulfreunden ist kein Leichtathlet, am Anfang gab es einige fragende Blicke zum Thema „Hochsprung“. Mittlerweile wüssten aber alle, worum es geht. „Bei großen Wettkämpfen verfolgen meine besten Freunde meine Leistungen. Zuletzt haben wir sogar eine Wette abgeschlossen, ob ich die Quali zu den deutschen Meisterschaften schaffe“, grinst sie. Ihr Wettschuld – ein gemeinsames Essen mit ihren besten Freuden – hat sie selbstverständlich eingelöst. Unterstützung erhält die Schülerin auch durch ihre Familie. Ihr Vater war, ihre Schwester ist Leichtathlet/in, ihre Mutter und ihr jüngerer Bruder sind in anderen Sportarten aktiv. „Definitiv sind wir eine Sportfamilie!“, erklärt sie stolz.
Weniger verwunderlich ist daher auch, dass Annika sich eine Laufbahn als Vollzeit-Leistungssportlerin sehr gut vorstellen kann. „Klar, das ist der große Traum, den man als Nachwuchsleistungssportler hat.“ Wichtig dafür sind, nach Ansicht des Hochsprung-Talents, kleine, schrittweise Ziele, um realistische Anreize in Training und Wettkampf zu haben. „Die Qualifikation für die deutschen Meisterschaften wieder zu schaffen ist mein Ziel für das nächste Jahr.“ Leistungssport sieht Annika aber dennoch als möglichen Nebenberuf, hauptsächlich möchte sie später Kindern die Fächer Mathe und Sport näherbringen.
Auf ihrem Weg ins Leistungssportlerleben fördert der Fußball- und Leichtathletik-Verband Westfalen (FLVW) die vielversprechenden Nachwuchstalente. Eine Förderung, die vor allem dank der nunmehr vierjährigen Kooperation des Verbandes mit seinem Partner goldgas möglich ist. Die Unterstützung des Energieversorgers ermöglicht es der westfälischen Leichtathletik, jährlich das „goldgas Talent-Camp“ durchzuführen. Über vier Tage werden Nachwuchsathletinnen und -athleten auf ihre Stärken, beziehungsweise Schwächen getestet, Leistungsdiagnosen erstellt und die Besten unter ihnen für die weitere Förderung ausgewählt. Diese besteht dann aus den Kaderlehrgängen des „goldgas Talent-Teams“.
Die besten Athletinnen und Athleten aus Westfalen werden hier an den Leistungssport herangeführt. Neue Ideen und Vorschläge von den Kadertrainern, Einheiten zum Leistungssportlerleben neben dem Sportplatz sind wie moderne Trainingsbedingungen die Vorzüge, die die intensive Kooperation ermöglicht. Über das Talent-Camp 2018 ist Annika in das „goldgas Talent-Team“ berufen worden. „Ich habe vor allem die Möglichkeit bekommen, mit anderen Hochspringerinnen zu trainieren. In meinem Verein bin ich die einzige, im Stützpunkt trainieren wir zu zweit – das Talent-Team hat mir die Möglichkeit gegeben, mich im Training mit anderen auszutauschen, aber auch mal zu messen.“
Besondere langfristige Ziele möchte Annika sich nicht setzen. Weltmeisterschaft und Olympia sind allenfalls Träume, aber keine ernsthaft gesetzten Ziele. Sich Schritt für Schritt immer weiter zu entwickeln, ist der für sie richtige Weg. „Wenn ich mir irgendein Ziel gesetzt habe, dann das, dass ich irgendwann mal über meine jetzige Körpergröße springen möchte.“ Ihren Ansporn nimmt sie aus der Anerkennung, dem Stolz von Freunden, Familie und sich selbst. „Mich treibt an, dass durch besondere sportliche Leistungen, die nicht jeder mal eben so erreichen kann, deine Familie und Freunde stolz auf dich sind. Das ist man dann auch selbst. Das Gefühl, dass sich die harte Arbeit ausgezahlt hat, ist unfassbar schön.“