Die letzte Sprinterin, der das gelungen war, hieß Katrin Krabbe. Die Neubrandenburgerin war am 27. August 1991 bei ihrem WM-Triumph in Tokio 10,99 Sekunden gelaufen.
„Ich bin einfach unfassbar glücklich, ich habe meine persönliche Schallmauer durchbrochen. Ich wusste, dass diese Zeit in mir steckt. Auch mein Trainer Uli Kunst wusste, dass ich es kann“, jubelte die Deutsche 100-Meter-Meisterin von der LG Olympia Dortmund. Mit 10,95 Sekunden stürmte die 20-Jährige auf Platz sechs der ewigen deutschen Bestenliste. Alle fünf vor ihr liegenden Sprinterinnen – angeführt von der deutschen Rekordlerin Marlies Göhr (SC Motor Jena; 10,81 sek) – liefen ihre Top-Zeiten in den 80er-Jahren im DDR-Trikot.
Vor 60.000 Zuschauern im Olympiastadion erwischte Gina Lückenkemper einen perfekten Auftakt in die WM. Im ersten Vorlauf legte sie nach einem verhaltenen Start richtig los, schloss zur starken Konkurrenz auf und stürmte am Ende unangefochten zum Sieg vor Top-Favoritin Murielle Ahouré (Elfenbeinküste; 11,04 sek) und Jura Levy (Jamaika; 11,09 sek). Unterstützt wurde der Vorlauf von einem gültigen Rückenwind von 1,3 Metern pro Sekunde.
Als die Zeit auf der Anzeigetafel erschien, schlug die Studentin ihre Hände vors Gesicht. „Ich wollte natürlich noch einmal eine 10er-Zeit in Angriff nehmen. Dass es aber gleich im Vorlauf klappt, damit konnte ich nicht rechnen“, sagte die Soesterin und blickte gleich schon wieder nach vorn aufs Halbfinale am Sonntagabend. „Vielleicht geht’s dann ja noch ein bisschen schneller, auf den ersten Metern habe ich noch etwas Zeit liegen gelassen!“
Ganz nebenbei wird Gina Lückenkemper als Vorlaufschnellste die drei Halbfinals in Angriff nehmen. Sie blieb als einzige Sprinterin in den sechs Vorläufen unter elf Sekunden. Auch die Doppel-Olympiasiegerin Elaine Thompson (Jamaika; 11,05 sek) und 200-Meter-Weltmeisterin Dafne Schippers (Niederlande; 11,08 sek) kamen nicht an die Zeit der jungen Soesterin heran.
Tatjana Pinto nach einem Fehlstart disqualifziert
Allerdings hatte Gina Lückenkemper im ersten Vorlauf auch noch das Glück, im Trockenen über die rote Bahn zu sprinten. Danach machte ein heftiger Regenschauer den Läuferinnen zu schaffen. Zweitschnellste in den Vorläufen war Marie-Josée Ta Lou (Elfenbeinküste; 11,00 sek), danach folgte ihre Landsfrau Murielle Ahouré mit 11,04 Sekunden. Die zweite deutsche Starterin Tatjana Pinto (LC Paderborn) wurde aufgrund eines Fehlstarts in ihrem Vorlauf disqualifiziert.
Dass sie mit der Top-Zeit aus dem Vorlauf nun plötzlich Medaillenkandidatin ist, davon wollte Gina Lückenkemper in London nichts wissen. „Da sollten wir die Kirche im Dorf lassen. Im Halbfinale geht’s darum, die Leistung wenn möglich noch einmal zu bestätigen und vielleicht noch einen Tick zu verbessern“, schaute sie schon auf Rennen am Sonntagabend um 20:10 Uhr. Im ersten von drei Läufen trifft sie unter anderem auf Dafne Schippers (Bestzeit: 10,81 sek), Kelly-Ann Baptiste (Trinidad & Tobago; 10,84 sek) und die Jamaikanerin Simon Facey (10,95 sek). Nur die jeweils zwei Schnellsten der drei Halbfinals sowie insgesamt zwei Zeitschnellste kommen ins Finale am Sonntagabend um 22:50 Uhr. Zuletzt waren dafür bei WM und Olympischen Spielen Zeiten von 10,96 beziehungsweise 10,97 Sekunden nötig. Die internationale Konkurrenz wird sich nach dem Aufgalopp im Vorlauf also am Sonntag mit Sicherheit noch steigern.
Die letzte Deutsche, die bei einer WM im 100-Meter-Finale stand, war übrigens Melanie Paschke. 1997 lief sie in 11,19 Sekunden in Athen auf Platz sechs. Damals war Gina Lückenkemper knapp neun Monate alt und lernte gerade das Laufen. Exakt 20 Jahre und zwei Tage später hat die junge Soesterin auf der roten Bahn in London ein Stück Leichtathletik-Geschichte geschrieben.