„Heute fällt die Predigt aus, denn ich hab euch was zu sagen“, begann einst ein Prediger seine Kanzelrede. Ich mache mir diese Zeile zu eigen, will sagen: Ich werde keine besinnliche Adventsansprache halten, sondern in Teilen eine Standortbestimmung für den Verband formulieren.
Bilanz ziehen ist eine ebenso gern geübte wie gelegentlich fragwürdige Disziplin, dann nämlich, wenn man selbst die Kriterien bestimmen kann, nach denen Erfolg oder Misserfolg bewertet werden.
Im sportlichen Bereich ist Bilanz ziehen einfach, da kann man messen, zählen, Tabellen schreiben und Ranglisten. Das geschieht aufgrund objektiver Feststellungen.
Mit Elias Schreml von der LG Olympia Dortmund haben wir aktuell den U20-Europameister über 3.000 Meter und mit Keshia Kwadwo und Philipp Trutenat eine U23-Europameisterin bzw. einen U23-Europameister jeweils mit der 4 x 100m Staffel. Im nationalen Ranking 2019 der Landesverbände im LV-Schwerpunkt Nachwuchsförderung liegt Westfalen auf Platz 2. Schöne Erfolge unserer Leichtathleten. Wozu dann noch die Wahl von Peter Westermann in das Präsidium des DLV und Verleihung des DLV-Ehrenschildes gezählt werden müssen.
Im Fußball holte sich die U19 des BVB die Deutsche Meisterschaft mit einem 5:3 in Stuttgart, und die B-Junioren der Schwarz-Gelben unterlagen im Finale nur knapp dem 1. FC Köln.
U18 setzt westfälisches Highlight
Das Highlight aus FLVW-Sicht aber setzte die U18-Juniorinnen-Auswahlmannschaft des FLVW mit dem Gewinn des Länderpokals 2019 in Duisburg. Ein - wie ich finde - riesiger Erfolg für das neue Team um die neue Verbandssportlehrerin Lea Notthoff, den wir erst vorgestern hier mit einem Festakt gewürdigt haben. Und es soll nicht unerwähnt bleiben, dass wir mit Kathrin Peter dem DFB die Trainerin der U19- bzw. U20-Frauennationalmannschaft zur Verfügung gestellt haben, ein Karrieresprung für sie, aber auch ein Zeugnis dafür, welch hervorragende Arbeit im Frauen- und Mädchenbereich des FLVW geleistet wird. Dass mit Sophia Kleinherne 2019 die dritte Spielerin aus dem FLVW-Mädcheninternat den Sprung in die Frauen-A-Nationalmannschaft geschafft hat, unterstreicht diese Tatsache ebenfalls eindrucksvoll.
Auch im wirtschaftlichen Bereich zählen Zahlen. Dazu gibt es ein Testat des Wirtschaftsprüfers. Bilanz für das Jahr 2019 im FLVW: alles top; keine Beanstandungen durch den Betriebsprüfer, und das zum vierten Mal in Folge.
Aber der Verband ist mehr als nur Spielbetrieb oder Leichtathletik-Wettkämpfe. Er muss Stimmungen aufnehmen, Gefährdungspotenziale erkennen, Entwicklungen voraussehen und im Idealfall Orientierung geben und Lösungen finden oder erarbeiten. Das ist eine Endlosschleife, weil die Bedingungen ja nicht gleich bleiben, sondern sich unablässig verändern, und zwar mit jedem Jahr rasanter und herausfordernder. Das kann Schwindel erregen, das kann desorientieren. Das kann müde machen.Und deswegen ist es unsere vornehmste Pflicht, pfleglich mit denen umzugehen, die sich zur Mitarbeit bereit finden, mit hohem persönlichen Einsatz, mit dem weitgehenden Verzicht auf Zweisamkeit oder Familienleben, mit Verantwortungsbewusstsein und - vor allem - mit Leidenschaft.
Ein Herzensanliegen
Immer wieder gerne und mit Überzeugung singe ich das hohe Lied der Ehrenamtlichkeit. Noch viel mehr müssen wir in den Vereinen und auch im Verband in die Ehrenamtlichen investieren. Sie zahlen uns diese Investitionen vielfältig zurück. Sie sind mit ihren Leistungen die „Hauptsponsoren“ unserer Arbeit - Ihr seid mit euren Leistungen die „Hauptsponsoren“ unserer Arbeit! Ihr spendet Leidenschaft, Wissen, Kreativität und Zeit!
Das herzliche Dankeschön, das ich dafür Ihnen/euch allen sagen will, ist beileibe keine Pflichtübung, sondern mir ein Herzensanliegen, nicht nur, aber auch, weil der FLVW weiterhin auf Ihre/eure Mitarbeit angewiesen ist und darauf zählen möchte. In diesen Dank schließe ich nachdrücklich die Partner respektive Partnerinnen ein, ohne deren Verständnis und Loslassen-Können, ohne deren Unterstützung das Engagement gar nicht oder nicht so möglich wäre.
Ob wir in den nicht-sportlichen, nicht-wirtschaftlichen Bereichen im ablaufenden Jahr erfolgreich waren, ist eine eher subjektive Einschätzung. Ich selbst bewerte unsere Arbeit als weitgehend erfolgreich, ohne aber zu verkennen, dass wir immer wieder dasselbe Problem haben. Wir schaffen es nicht, die Zukunft zu entwickeln, weil wir immer wieder der Gegenwart nachlaufen müssen, so paradox das auch klingen mag. Und das müssen wir, weil die Entwicklungen schneller sind als wir. Aber das müssen wir vielleicht auch, weil wir uns in der Vergangenheit oftmals in falscher Sicherheit gewiegt haben oder weil uns die Prognosefähigkeit gefehlt hat.
Ein Beispiel: Wir erleben zur Zeit eine intensive Diskussion über Gewalt im Amateurfußball. Das ist gut so und richtig. Das ist nötig. Aber warum erst jetzt dieser Hype? Das Problem ist ja nicht neu. Oder: Warum überhaupt dieser Hype, wenn doch die Zahlen der Gewaltvorfälle über Jahre hinweg weitgehend konstant geblieben sind, wie uns der Rückgriff auf Statistiken glauben machen soll? Wenn wir den Kopf in den Sand stecken wollen, sind die Statistiken offensichtlich der beste Sand.
Präventionskonzepte sind „alternativlos“
Wir werden im Februar des nächsten Jahres ein Gewaltpräventionskonzept vorlegen, das dafür sorgen muss, sorgen wird, dass sich die Atmosphäre auf unseren Plätzen wieder ändert. Seit 2017 haben wir im FLVW einen Anstieg der Gewaltvorfälle um 20 Prozent zu verzeichnen. Das sind beileibe keine gleichbleibenden oder nur kaum gestiegene Zahlen. Das gesamtgesellschaftliche Problem von zunehmender Respektlosigkeit und Gewaltbereitschaft zeigt sich also auch auf unseren Fußballplätzen. Die Intensität der Gewaltvorfälle ist deutlich gestiegen, die Hemmschwelle bei Spielern und Zuschauern deutlich gesunken. Das können und wollen wir so nicht hinnehmen.
Solche Präventionskonzepte sind „alternativlos“, aber sie sind auch der verzweifelte Versuch, einer Entwicklung Einhalt zu gebieten, die wir lange Zeit - zu lange Zeit - eher bagatellisierend und/oder ratlos haben geschehen lassen.
Insofern begrüße ich den gegenwärtigen Hype, und wir werden im FLVW alles tun, die Debatte nicht konsequenzlos versickern zu lassen. Das sind wir dem Fußball, das sind wir den Vereinen schuldig.
Eine weitere Gefährdung dämmert seit einiger Zeit am Horizont herauf, und auch hier müssen wir eine Haltung haben und sie auch zeigen.
„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“, dichtete Bertolt Brecht 1957 im Epilog seines Stückes „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, und er bezog das auf die immer noch latent oder offen vorhandene rechtsextreme Gesinnung im Nachkriegsdeutschland.
Es macht mich betroffen und besorgt, dass dieser Befund für Teile unserer Gesellschaft immer noch gilt, ja dass rechtsextreme Meinungen und antisemitische und rassistische Diskriminierungen zunehmend gesellschaftsfähig werden. Zur Untermauerung dieser Diagnose genügt ein Blick auf die politische und gesellschaftliche Gegenwart. Es gibt einen braunen Bodensatz, der immer deutlicher aufwächst: Pegida, Reichsbürger, Identitäre Bewegung, Bürgerbewegung pro Deutschland, NRW oder Köln, AFD, die Liste dieser verbalterroristischen Vereinigungen ließe sich durchaus noch verlängern. Rechtsextremismus und Antisemitismus sind längst kein Randproblem mehr, sie sind in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen.
Wie kann es sein?
Und natürlich ist der Sport nicht frei von diesem völkischen National-Chauvinismus. Immer mal wieder wird in den Fankurven der Stadien und auf Sportplätzen auch unseres Verbandes rechtsextremistisches Gedankengut hör- und sichtbar. Das ist keine „Südtribünen-Folklore“, das sind ebenso wie die Pyrotechnik keine unvermeidlichen Begleiterscheinungen, über die man achselzuckend hinwegsehen und hinweggehen könnte, das ist eine gefährliche und Aufmerksamkeit heischende Entwicklung.
Wie kann es sein, dass Spieler bei ihrer Aufstiegsfeier gut gelaunt Sieg-Heil brüllen und keiner einschreitet? Wie kann es sein, dass diese Grölerei dann auch noch über Youtube veröffentlicht wird? Sind da wirklich nur Sicherungen durchgebrannt?
Wie kann es sein, dass eine Mannschaft, deren Spieler rassistisch beschimpft werden und daraufhin das Spielfeld verlässt, wegen dieses „unnötigen“ Spielabbruchs auch noch mit Punktabzug bestraft wird? Das mag alles satzungs- oder ordnungsgemäß sein. Aber fordert das nicht geradezu zu einer Satzungs- bzw. Ordnungsänderung heraus, oder wollen wir auch das so lange als bedauerliche Einzelfälle abtun, bis sie zu einer Welle werden.
Warum ich diesen Gefährdungen einen so breiten Raum gebe in dieser Standortbestimmung? Weil sie mir wichtig sind, und weil ich finde, dass wir alle sie wichtig nehmen müssen. Wir hier in der Rotunde sind die Führungselite des FLVW. Wir können uns Indifferenz nicht leisten. Wir müssen Orientierung geben. Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt? Wer heute noch nur Zuschauer ist, kann morgen schon Betroffener sein. Thomas Schickentanz weiß ein Lied davon zu singen. Ein menschenverachtendes Verhalten ist nicht zu entschuldigen, nicht zu tolerieren und erst recht nicht zu erklären. Wer dazu schweigt, stimmt zu. Fußballplätze dürfen nicht zu Kloaken unserer Gesellschaft werden.
„Herr Präsident, wo bleibt das Positive?“ könnte jetzt einer mit einem leicht abgewandelten Zitat von Erich Kästner zu fragen versucht sein.
Es kommt. Es kommt jetzt. Und ich knüpfe an an das, was ich gerade gesagt habe.
Wir haben bei unserem diesjährigen Verbandstag einen Ethik-Kodex verabschiedet, in dem wir uns verpflichten, „Diskriminierung, Belästigung oder Beleidigung aufgrund von ethnischer Herkunft, Nationalität, Religion, Weltanschauung, Alter, Geschlecht, Behinderung oder sexueller Identität“ nicht zu dulden. Auch zur Transparenz und zur Nachhaltigkeit bekennen wir uns darin.
Wir zeigen dauerhaft Flagge gegen Antisemitismus und Rassismus. Vor wenigen Wochen haben wir die Kampagne #WirSindUnsEinig ins Leben gerufen. Zudem unterstützt der Verband Aktionen wie „NieWieder!“, den DFB-Integrationspreis, den Julius-Hirsch-Preis und bietet integrative und demokratiestärkende Projekte an. Und immer wieder sind es Vereine aus unserem Verbandsgebiet, die unter den Preisträgern sind. Das kann uns stolz machen.
Kreativität und mehr Zukunftsbewusstsein
Aber nicht nur das. Der zuletzt etwas vor sich hindümpelnde Zukunftspreis des FLVW hat einen erfreulichen Aufschwung erlebt. Insgesamt 26 Bewerbungen aus unseren Vereinen haben uns vorgelegen, viele darunter mit preiswürdigen Initiativen und Projekten. Das zeigt eindrucksvoll, dass in unseren Vereinen mehr Kreativität und mehr Zukunftsbewusstsein vorhanden sind, als wir uns das manchmal vorzustellen vermögen. Das zu unterstützen, das weiterhin zu fördern, wird auch in den nächsten Jahren das vornehmste Ziel unserer Verbandsarbeit sein müssen.
Wir haben beim Verbandstag Satzungsänderungen - zarte Satzungsänderungen will ich sie einmal nennen - verabschiedet, die uns deutlicher positionieren und uns der Zukunft verpflichten. Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Jugendlichen an der Verbandsarbeit z.B. ist darin festgeschrieben. Und dass wir tatsächlich schon mehr Frauen in den Führungsämtern unserer Vereine und unseres Verbandes zu verzeichnen haben, ist nicht zuletzt ein Erfolg unseres Leadership-Programms für Frauen, das zur Zeit eine Fortsetzung erfährt, auch zukünftig weitergeführt und noch um ein Leadership-Programm für junges Ehrenamt ergänzt werden soll.
Wir haben das Präsidium um zwei Positionen erweitert. Die gesteigerte Aufgabenvielfalt hat das geboten. Gesellschaftliche Herausforderungen und die Herausforderungen durch eine fortschreitende Digitalisierung sind jetzt noch deutlicher im Präsidium angedockt, als das bisher der Fall war. Das macht einmal mehr deutlich, dass Satzungen keinen Ewigkeitscharakter haben, haben dürfen, sondern flexibel auf sich verändernde Verhältnisse und Bedürfnisse reagieren müssen.
Wir haben uns um eSport gekümmert. Die Marketing GmbH unseres Verbandes hat das wie vieles andere mit Verve und mit Akribie vorangetrieben. Seit dem 6. November heißt es „FLVW goes eSports“. Wir wollen damit die Vereine unterstützen, wieder mehr Jugendliche an den Verein zu binden und durch ESport-Turniere vor Ort die Vereinsheime zu beleben oder wiederzubeleben. Die kostenlose Online-Plattform für Amateursportler und alle Interessierten ist schon kurz nach der Einrichtung ein voller Erfolg. Das erste Online-Turnier FLVWESPORTS-Cup hatte schon 77 Teilnehmer, das zweite Turnier wird noch in diesem Jahr gespielt, Tendenz bei der Teilnehmerzahl steigend.
Und wir haben nicht zuletzt mit dem FLVW-Vereinsforum 2019 die Erfolgsgeschichte des 1. Forums fortgeschrieben. Den 220 Gästen an den beiden Tagen haben wir jede Menge Informationen über den Verband angeboten und über Präsentationen und Workshops zahlreiche neue oder schon etablierte Projekte vorgestellt, die die Vereinsarbeit erleichtern und attraktiver machen können.
Wir, das Präsidium des Fußball- und Leichtathletik-Verbandes Westfalen, haben in den vergangenen Monaten so etwas wie einen Wunschzettel für den Fußball- und Leichtathletik-Verband Westfalen geschrieben.
Die Liste ist lang:
- keine Gewalt mehr auf unseren Fußballplätzen und erst recht keine Diskriminierungen, kein Rassismus und kein Antisemitismus.
- Mehr Menschen, die in den Vereinen, Kreisen und im Verband mitarbeiten, mehr Kinder, die Sport treiben wollen, mehr Schiedsrichter, mehr qualifizierte Trainerinnen und Trainer.
- Und schließlich Vereine, die auch wirtschaftlich funktionieren und sich nicht bis zum finanziellen Supergau kommerzialisieren.
Gern würden wir euch und den Vereinen diese Wünsche erfüllen, rote Schleife drum und unter den Weihnachtsbaum gelegt. Dazu fehlt uns aber offenbar das magische Moment.
Schade eigentlich. Also werden wir uns diesen Fragen im kommenden Jahr selbst widmen - gemeinsam mit euch und den Vereinen. Denn nur wenn wir gemeinsam agieren - als Einheit: Verein - Kreis - Verband - wird die Erfüllung dieser Wünsche gelingen können.
Wir haben im vergangenen Jahre viele 100-jährige Vereinsjubiläen gefeiert. Dabei hat sich gezeigt, dass die Vereine, die in die Jugend, in die Breite investieren, die Vereine mit Zukunftspotenzial sind, also auch weitere 100 Jahre bestehen können. Wir können viel von diesen Vereinen lernen. Es sind Vereine, die die Interessen ihrer Mitglieder in den Vordergrund rücken, die etwas für den Gemeinschaftscharakter tun, den Gemeinschaftssinn der Mitglieder stärken. Es sind Vereine, die viel Zeit und Geld in die Förderung der Kinder und Jugendliche in der Umgebung stecken und eben NICHT in ihre erste Mannschaft, in der sich eingekaufte Spieler tummeln, die sich ihre Spiele auch noch fürstlich bezahlen lassen.
Vor allem diese Vereine zu unterstützen, ist unser Auftrag auch für das neue Jahr, das - da muss man kein Prophet sein - neue zusätzliche Herausforderungen für uns bereit halten wird - ob wir sie wollen oder nicht.
Ich schließe persönlich und versöhnlich mit dem Satz von Theodor Fontane, den ich auf die FLVW-Weihnachtskarten haben drucken lassen:
„Das Glück, wenn es mir recht ist, liegt in zweierlei: Darin, daß man ganz da steht, wo man hingehört, und zum Zweiten und Besten in einem behaglichen Abwickeln des ganz Alltäglichen, also darin, daß man ausgeschlafen hat, und daß einen die neuen Stiefel nicht drücken.“
Ich wünsche Ihnen, ich wünsche euch besinnliche Feiertage und ein angenehm alltägliches und druckfreies Jahr 2020.