Knut Kircher erinnert sich noch heute sehr gut an den Tag, als er in der Schalker Arena förmlich einen Düsenflieger starten hörte. Die Fans der Königsblauen waren am 5. November 2006 so sauer auf ihr Team, dass sie die ersten 19:04 Minuten streikten. Gerade als die Zeit um war, schoss der Schalker Levan Kobiashvili gegen Bayern München ein Tor, die Fans jubelten schlagartig ausgelassen. „Das war absolutes Gänsehaut-Feeling“, sagte der ehemalige Bundesliga-Schiedsrichter.
„Die wahren Helden pfeifen in den untersten Spielklassen“, sagte Kircher. Oder es sind diejenigen, die in Libyen lebend vom Platz kommen. Ein von den Rängen geworfener Dolch steckte nur wenige Meter neben Kirchers Assistenten im Rasen. „Andere Länder, andere Sitten“, sagte Kircher schmunzelnd. Emotional geht es auch auf den deutschen Bundesliga-Plätzen zu. Man müsse Ruhe bewahren, ohne hektisch zu werden, so Kircher. Wenn neben dem Spieler auch der Schiedsrichter emotional reagiere, „schaukelt sich die Situation hoch“. Wie hektisch es im Profifußball zugeht, merkte Kircher am eigenen Leib nach einem unberechtigten Elfmeterpfiff für Bayern München in der Nachspielzeit beim FC Augsburg (2:1). „Wenn die Fernsehanstalten nach einem Interview fragen, muss man auf Habachtstellung gehen.“ Die Nachspielzeit, so der 47-Jährige, sei der Tod eines jeden Schiedsrichters.
Grundsätzlich lägen 80 bis 85 Prozent aller Entscheidungen im Ermessensspielraum des Schiedsrichters. „Das ist die Würze“, sagte Kircher. Rund 300 Entscheidungen müsse ein Unparteiischer durchschnittlich pro Spiel treffen, damit seien aber nicht nur die tatsächlich ausgeführten Pfiffe gemeint. Wie knifflig Entscheidungen sein können, zeigte er am Beispiel des Münchener Stürmers Giovane Elber. Der Brasilianer zog beim Torjubel sein Trikot über den Kopf. Darunter trug er noch ein Trikot. „Das spielt aber keine Rolle“, erklärte Knut Kircher. Eigentlich hätte der Schiedsrichter die gelbe Karte ziehen müssen. Als Elber das sah, verschenkte er sein Trikot spontan an einen im Rollstuhl sitzenden Jungen. Der Schiri ließ die gelbe Karte stecken. Der mediale Aufschrei, so vermutete Kircher, wäre wohl enorm gewesen. Wie könne ein Spieler bestraft werden, der sein Trikot an einen behinderten Jungen verschenke. Das sei wahrscheinlich dem Kollegen auch klar gewesen.
"Psychologische Kriegsspiele"
Oft versuchten Spieler und Trainer „psychologische Kriegsspiele während des Spiels“. Wie zum Beispiel Trainer Ottmar Hitzfeld. „Das war kein Abseits, war aber nicht so schlimm“, sagte der Trainer nach einem wegen Abseits aberkannten Tores in ruhigem Ton. Auf ausschweifende Diskussionen ließ sich Kircher in all den Jahren nicht ein. Knappe, kurze Kommentare seien das Beste, so der Experte. Das Meiste könne ein Schiedsrichter mit seiner Mimik und Gestik erreichen. Man soll „keinen Spieler abhängen, sondern Kontakt herstellen“, gab er den Kollegen mit auf den Weg.
Der beste Schiedsrichter ist aus seiner Sicht weder der mit der besten Regelkenntnis noch „der Superverkäufer“. Es sei die Mischung. Wichtig: „Seid so, wie ihr sonst auch seid, seid authentisch.“ Hilfreich sei „ab und zu mal ein Lächeln einzustreuen“. Hingegen seien länger hinausgezögerte Entscheidungen nicht immer besser als schnelle. Davon sei auch der DFB nicht ausgenommen, so Kircher mit einem Grinsen im Gesicht. Der Deutsche Fußball-Bund hatte – nach vierwöchiger Vorlaufzeit – dem sechsmaligen Weltschiedsrichter Pierluigi Collina als kleines Präsent einen Fön geschenkt. Nur: Der Italiener hat eine Glatze.
"Schiedsrichter sind Wettkampftypen"
„Schiedsrichter sind Wettkampftypen“, sagte der Schwabe. Sie wollten immer die wichtigen Spiele. Knut Kircher bekam am 11. April 2012 ein solches Spiel: Borussia Dortmund gegen Bayern München. Bayerns Arjen Robben verschoss in der 85. Minute einen umstrittenen Elfmeter. Dortmund gewann 1:0 und wurde später Deutscher Meister. Schiedsrichter-Entscheidungen können aber auch in der frühen Phase einer Saison weitreichende Folgen haben. So hoffte Kircher nach seinem Elfmeter-Patzer zu Ungunsten des später in Abstiegsgefahr geratenen FC Augsburg: „Ho, ho, ho lass die da unten rauskommen.“ Was wäre, wenn den Augsburgern am Ende ein Punkt gefehlt hätte?
Hohe Anforderungen
Die Bundesliga-Schiris stehen unter einer extremen Beobachtung. Bei besonderen Spielen werden bis zu 50 Kameras eingesetzt. Jede Szene wird von den Journalisten aus zahlreichen Positionen bewertet. Dazu müssen sie zwischen zwölf und 14 Kilometern in den 90 Minuten laufen. Und das bei einer durchschnittlichen Herzfrequenz von 168 Schlägen.
Eine Grenze, so Kircher, sei die menschliche Wahrnehmung. So könnten zwei Spieler, die sich voneinander wegbewegten, in nur einer Zehntelsekunde bis zu 1,6 Meter auseinanderstehen. Dort richtige Abseitsentscheidungen zu treffen, sei eine große Leistung, so Knut Kircher. Wie schwierig Abseitsentscheidungen sind, musste der 47-Jährige zuletzt in der Bezirksliga erfahren. Als die Zuschauer von draußen einen Abseitspfiff forderten, schaute Kircher an die Linie. Doch dort stand kein neutraler Assistent, nur einer „mit kurzer Hose, einer Flasche Bier und der Fahne unterm Arm“.
In seiner aktiven Zeit schaute er sich in der Halbzeit – obwohl es die Möglichkeit gegeben hätte – keine Fernsehbilder an. „Vorsicht vor Informationen“, so sein Credo. Es gebe immer unterschiedliche Perspektiven. Eine Ausnahme machte er bei seiner Frau. Die schickte ihm Kurznachrichten aufs Handy – und konfrontierte ihn auch mit seinen Fehlentscheidungen. Da konnte ihn auch ein liebevoller Abschiedsgruß seiner Gattin nicht trösten.