Annegret Richter öffnete für "Museum of World Athletics" ihren Kleiderschrank

Annegret Richter, eine der erfolgreichsten deutschen Sprinterinnen aller Zeiten und Ehrenmitglied des Fußball- und Leichtathletik-Verbandes Westfalen (FLVW), hatte die Qual der Wahl. Die Frage war, welches Erinnerungsstück sie dem „Museum of World Athletics“ vermachen sollte. Die Dortmunderin, die zwei goldene und zwei silberne Medaillen bei Olympischen Spielen gewonnen hatte, dreimal Europameisterin war und beim Weltcup zwei Siege errungen hatte, stand vor ihrem Kleiderschrank, in dem sie auch historische Kleidungsstücke ihrer Karriere aufbewahrt. Schließlich entschied sich die heute 70-Jährige, ihr Jackett der Europa-Mannschaft des 1. IAAF Weltcups von Düsseldorf 1977 der World Athletics Heritage zur Verfügung zu stellen.

„Es ist für mich eine große Ehre und eine hohe Wertschätzung meiner erbrachten Leistungen, unter so vielen Top-Athletinnen und Athleten der Welt im MOWA gewürdigt zu werden“, sagt Annegret Richter, die sich nach kurzer Bedenkzeit von diesem schmucken Jackett mit dem großen „E“ auf der linken Brust getrennt hat. Der Weltcup, Vorläufer der erstmals in Helsinki 1983 ausgetragenen Weltmeisterschaften, war im Düsseldorfer Rheinstadion vor insgesamt 140.000 Zuschauern ein durchschlagender Erfolg. Annegret Richter lief in der 4 x 100-Meter-Staffel der Europa-Auswahl, die sogar die DDR bezwang.

Zwei Staffel-Siege für das Europa-Team

Sie erinnert sich: „Es herrschte an allen drei Tagen eine großartige Atmosphäre im Rheinstadion. Ich hatte die große Ehre, die Europaauswahl erfolgreich vertreten zu dürfen. Mit einem deutsch-britischen Quartett konnten wir die favorisierte Staffel der DDR bezwingen und verfehlten mit 42,51 Sekunden den damaligen Weltrekord nur um eine Hundertstelsekunde. Die Zuschauer dankten uns mit langanhaltendem Beifall. Das war schon beeindruckend.“

Zwei Jahre später wiederholte sich die Düsseldorfer Staffel-Sensation auch beim Weltcup in Montreal. Erneut bezwang die Europa-Auswahl, für die Annegret Richter wieder in der zweiten Kurve lief, in 42,19 Sekunden die DDR (42,32 Sek.).

Neben Olympia war der Weltcup in den späten 70er-Jahren die zweitgrößte Leichtathletik-Veranstaltung der Welt. Und so war die Rückkehr nach Montreal auch eine emotionale Zeitreise für Annegret Richter. Zurück in die kanadische Olympia-Stadt, wo sie mit Gold und zweimal Silber den größten Erfolg ihrer Laufbahn gefeiert hatte.

Weltrekord im Semifinale von Montreal

Die 100-Meter-Entscheidung an jenem 25. Juli 1976, einem schließlich goldenen Sonntag, zehrt bei Beobachtern von einst selbst heute noch an den Nerven. Welche Dramatik! Die erste Sensation bereits im Semifinale! Annegret Richter, die 1976 zuvor in Gelsenkirchen in 10,8 Sekunden den handgestoppten Weltrekord egalisiert hatte, verbesserte in der Vorentscheidung in 11,01 Sekunden den Weltrekord, den ihre Trainingskameradin Inge Helten gut einen Monat zuvor in Fürth mit 11,04 gelaufen war, um drei Hundertstel. Annegret Richter lief in diesem Semifinale noch nicht einmal voll durch, wäre sie nicht ein wenig ausgetrudelt, wäre sie (und nicht ein Jahr später Marlies Oelsner in 10,88) als erste Frau der Welt elektronisch unter 11,00 geblieben. Das spielte aber in diesem Moment nun wirklich keine Rolle.

Historisches 100-Meter-Gold

Das große Aufeinandertreffen der besten Sprinterinnen der Welt, Annegret Richter und Inge Helten aus der Bundesrepublik Deutschland sowie Renate Stecher aus der DDR, die in München 1972 100-Meter-Gold gewonnen hatte, stand bevor. Die Nerven lagen bei fast allen Sprinterinnen blank. Es gab drei Fehlstarts, doch Annegret Richter blieb cool.

„Beim ersten Versuch war die Zeitmessung ausgefallen. Man hat uns sehr spät zurückgeschossen. Da hatte ich einen Bilderbuchstart erwischt. Damit wäre ich wahrscheinlich unter elf Sekunden geblieben“, vermutet sie. Erst der vierte Start glückte. Bis 50 Meter war der Fight noch offen, dann löste sich Annegret Richter Schritt für Schritt von ihren Gegnerinnen und gewann in 11,08 Sekunden vor Renate Stecher (11,13) und Inge Helten (11,17).

Revolutionärer Durchbruch“

Den für die Bundesrepublik historischen Olympiasieg bezeichnete der legendäre deutsche Leichtathletik-Journalist Heinz Vogel als „revolutionären Durchbruch“, der natürlich auch ein Erfolg des Sprinttrainers Wolfgang Thiele war. Und in der Tat sollte es in Montreal wahrhaft noch mehr werden.

Drei Tage später gewann Annegret Richter über 200 Meter die Silbermedaille, wobei sie sich in 22,39 Sekunden nur Bärbel Eckert (DDR) um zwei Hundertstel hatte geschlagen geben müssen, sie lag aber noch vor Renate Stecher (22,47) und klar vor Carla Bodendorf (DDR/22,64) und Inge Helten (22,68). Damit gingen die fünf ersten Plätze an deutsche Sprinterinnen!

Diese deutsche Überlegenheit machte, wie von allen erwartet, logischerweise auch das 4 x 100-Meter-Finale  aus. Die DDR (Oelsner, Stecher, Bodendorf, Eckert) gewann in 42,55 Sekunden vor der Bundesrepublik (Possekel, Helten, Richter, Kroniger) in 42,59. Mit Gold und zweimal Silber aber war Annegret Richter der Sprint-Star dieser Spiele.

Euphorie wie in München 1972

Daheim in Deutschland entfachte die damals 25-Jährige, die auch in ihrem größten Erfolg immer still und bescheiden blieb, eine wahre Woge der Begeisterung, die schon an die Leichtathletik-Euphorie von München 1972 erinnerte. Schon bei ihren ersten Spielen war sie ja Fünfte des 100-Meter-Endlaufs und holte mit der bundesdeutschen Staffel (Krause, Mickler-Becker, Richter, Rosendahl) in einem unvergessenen Finalkrimi in der Weltrekordzeit von 42,81 Sekunden Gold vor der DDR mit Schlussläuferin Renate Stecher (42,95 Sek.).

Die sensationellen Erfolge bei den Olympischen Spielen 1972 und 1976 krönten natürlich ihre Karriere, die sie mit 15 Jahren begonnen hatte. Bis Ende 1969 pendelte sie erfolgreich zwischen Sprint und Weitsprung. Danach lernte sie den Hürdensprinter Manfred Richter kennen, mit dem sie gelegentlich gemeinsam trainierte und so dem Sprint den Vorzug gab. Ihre internationale Laufbahn kam blitzschnell in Schwung.

Schon 1971 das erste EM-Gold

Ihren ersten großen Titel sollte sie bereits 1971 bei der EM in Helsinki mit der deutschen Sprintstaffel gewinnen (nach dieser EM wurde geheiratet). Zwei weitere Goldmedaillen folgten schon bei der Hallen-EM in Rotterdam 1973 über 60 Meter und in der 4 x 180-Meter-Staffel. Bei einer derart sensationellen Karriere geraten selbst Staffel-Silber von der EM in Rom 1974 sowie Silber und Bronze über 60 Meter von den Hallen-Europameisterschaften 1971 und 1972 ins zweite Glied.

Ein kurzer Rückblick wie hier reduziert sich meist auf die großen Schlaglichter und wird oft der ganzen Karriere nicht gerecht. Da können nackte Zahlen aber die Beständigkeit gut belegen. Von 1970 bis 1980 gewann Annegret Richter 28 Titel bei deutschen Meisterschaften, wobei sie fünfmal das begehrte Triple über 100 Meter, 200 Meter und 4 x 100 Meter eroberte. Annegret Richter ist nicht nur eine Legende der deutschen Leichtathletik, sondern des deutschen Sports schlechthin.

Familie steht längst im Mittelpunkt

Aber längst steht für sie nicht mehr der Sport, sondern die Familie im Vordergrund. Sie ist stolz auf ihre beiden Kinder Daniela und Marcus und natürlich sehr stolz auf ihre beiden Enkel, die sie inzwischen ständig auf Trab halten. Ein Sprint der anderen Art. Die 100-Meter-Olympiasiegerin von 1976 ist wunschlos glücklich. Ihr fällt kein Traum mehr ein, weil sie schon so viel Traumhaftes erlebt hat: „So wie es jetzt ist, bin ich mit allem zufrieden, und ich hoffe, dass es so noch lange bleiben wird.“